Buchbesprechung: Sylvain Cypel, The State of Israel vs. the Jews. New York (The Other Press) 2021

Dieses Buch ist nicht neu, aber aktueller denn je. Es hilft zu verstehen, was kaum zu verstehen ist: warum Israel tut, was es tut – und warum es gewillt sein könnte, viel oder alles zu unterlassen, was einen Genozid in Gaza verhindern könnte.

Nach der Lektüre erschiene eine solche Haltung als nahezu logische Folge einer jahrzehntelangen internationalen Sanktionsimmunität Israels und deren Kulminationspunkt am 14. Mai 2018, als Trump und Netanjahu den 70. Jahrestag der Staatsgründung mit gleich zwei Affronts gegen das Völkerrecht feierten: der eigenmächtigen Botschaftsverlegung nach Jerusalem einerseits und dem An- und Erschießen einer ganz ungewöhnlich hohen Anzahl friedlicher Demonstranten durch IDF-Scharfschützen an der Gaza-Grenze andererseits. Dass sich die Weltöffentlichkeit von Israels Verstößen gegen das Völkerrecht über so lange Zeit nicht aus der Ruhe bringen ließ, stärkte die Überzeugung seiner Staatsführung (und seiner Bevölkerung), letztlich tun und lassen zu können, was man gerade wollte und konnte (ohne Rücksicht auf UNO, Völkerrecht und dessen universalistisch-humanistische Grundlagen). So konnte der Premier im August 2018 auch anlässlich eines Empfangs für das diplomatische Corps seinem „deeply rooted contempt for international law“ freien Ausdruck verleihen, als er sagte: „In the Middle East, and in many parts of the world, there is a simple truth – there is no place for the weak. The weak crumble, are slaughtered, and are erased from history while the strong, for good or for ill, survive. The strong are respected, and alliances are made with the strong, and in the end peace is made with the strong.”

Nun ist der waffenstarrende Staat Israel sicher nicht „weak“, sondern „strong“. Er ist aber auch von einem religiös überhöhten Ethno-Nationalismus geprägt, der aus der Sicht eines liberalen Juden wie Sylvain Cypel letztlich niemandem eine positive Perspektive bietet. Nicht umsonst lautet das von Tony Judt stammende Motto des Buches denn auch: „The depressing truth is that Israel’s current behavior is not just bad for America, though it surely is. It is not even just bad für Israel itself, as many Israelis silently acknowledge. The depressing truth today is that Israel is bad for the Jews.”

Die zwölf Kapitel des Buches verstören durch die Materialfülle, mit der sie die Veralltäglichung der Grausamkeit gegenüber Wehrlosen beschreiben, die Sehnsucht großer Teile der Bevölkerung nach einem „Transfer“ der Palästinenser, die Stigmatisierung der liberalen Opposition und den atemberaubenden Flirt einer veritablen Justizministerin mit einem „Hauch von Faschismus“ – aber auch die Vorreiterrolle des Landes bei Entwicklung und Export von Überwachungstechnologie für allerlei intransparente Zwecke.

„Bad for the Jews“ ist das laut Cypel vor allem deshalb, weil das Ansehen Israels leidet und sich immer mehr Menschen jüdischen Glaubens nicht mehr von diesem Staat repräsentiert sehen, so dass die Gefahr eines Schismas innerhalb der Diaspora immer größer wird.

„Bad for Israel“ ist diese Politik, wenn das Land als Folge eines solchen Schismas allmählich doch die bedingungslose Unterstützung verlieren sollte, deren es heute noch teilhaftig wird. Oder wenn Cypels Satz „Sometimes you have to call things the way they are“ (S. 21) nicht nur an die Antwort des sowjetischen Dissidenten Andrei Amalrik auf die Frage nach den Gründen erinnern sollte, die ihn 1969 zu seinem Essay „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“ bewogen hatten, sondern auch in der Sache eine Parallele hätte. Denn so wie dieser seinerzeit erklärt hatte, nur einfach das Bedürfnis verspürt zu haben, „eine einfache, aber wichtige Sache laut auszusprechen“ (nämlich: dass das sowjetische Imperium bei all seiner Kraft und Prahlerei nicht auf die Ewigkeit gegründet sei), hätte Cypel seinem zweiten Buch über die Transformation der israelischen Gesellschaft auch den Titel geben können: „Kann Israel das Jahr 2048 (oder 2084) erleben?“

Hinter der Stärke des Landes steht eine tiefe Unsicherheit, die bekanntlich nicht einmal von der Regierung geleugnet wird, wenn diese tagein tagaus von der existenziellen Bedrohung durch das iranische Atomprogramm spricht oder in letzter Zeit zunehmend von der Bedrohung durch sogenannte „Delegitimierer“, die sich z.B. als harmlose Regierungskritiker ausgäben, in Wirklichkeit aber Antisemiten seien, denen es letztlich doch nur darum gehe, den jüdischen Staat zu destabilisieren und letztendlich zu zerstören.

„Bad for Israel“ ist die Politik des Landes hingegen laut Judt und Cypel, weil sie in eine Art Selbst-Delegitimierung des Staates durch sein eigenes Verhalten mündet: durch die Grausamkeiten der Besatzung, die Verachtung des Rechts und einen anachronistischen Ethnonationalismus („rooted in another time“), der das Land aus den normativen Bezügen der Gegenwart herausführt und gerade dadurch seine Zukunft aufs Spiel setzte.

Aus der Sicht des Rezensenten kann das Machtspiel des israelischen Machiavellismus freilich auch aufgehen. Dann nämlich, wenn sich halbautoritäre hybride Herrschaftsformen, die wie der „Bibi-ismus“ in Israel, der vorläufig vergangene „Bolsonar-ismus“ in Brasilien, der „Dutert-ismus“ auf den Philippinen oder gar der „Modi-ismus“ in Indien (um vom „Trump-ismus“ ganz zu schweigen) nicht zuletzt aufgrund der engen Partmerschaft mit Israel auch global auf Dauer etablieren und in der Form sog. Anokratien die Verachtung des Völkerrechts und seiner Institutionen zur Norm machen könnten. Das scheint heute nicht mehr ausgeschlossen. Eine solche Entwicklung würde mit einem Rückbau, bzw. einer Erosion der Autorität internationaler Konventionen, Organisationen (wie der UNO und des IGH) Hand in Hand gehen. Ob ein solcher Schritt in Richtung Selbstbarbarisierung der Welt am Ende wirklich "good for Israel" sein könnte, darf wohl bezweifelt werden. "Good for the world" wäre er auf keinen Fall.

Sebastian Scheerer

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