Slavoj Žižek: "Es gibt keine gute Seite in diesem Krieg", Essay
Nach der Frankfurter Buchmesse antwortet der Philosoph Slavoj Žižek seinen Kritikern: Wir müssen den Nahost-Konflikt verstehen, um einen Ausweg zu finden
Von Slavoj Žižek
Meine Rede auf der Eröffnungsfeier der Frankfurter Buchmesse wurde zweimal
harsch von dem Antisemitismusbeauftragten des Landes Hessen Uwe Becker
unterbrochen – und löste dann eine Lawine von Angriffen auf mich aus. Warum?
Zunächst einige Fakten zu meiner Rede. Ich hatte zunächst eine ganz andere Rede
geschrieben, aber kurz nach dem Hamas-Anschlag wurde ich von Jürgen Boos
kontaktiert, dem Direktor der Frankfurter Buchmesse, der mich bat, in meinem
Vortrag auch den Krieg zu erwähnen. Wahrscheinlich erwartete man von mir, mich
einfach in den Chor all derer einzureihen, die das, was die Regierung Israels
tut, nun bedingungslos zu unterstützen. Meine neue Rede habe ich im Voraus an
die slowenischen Organisatoren und an die Buchmesse in Frankfurt,
einschließlich an Jürgen Boos, geschickt, sie enthielt keine Überraschung: Die
Organisatoren kannten sie.
Warum also die Angriffe auf mich? Es hat einige Zeit gedauert, bis ich es
begriffen habe: Nicht weil ich in meiner Rede zu extrem war, sondern gerade
weil ich sehr ausgewogen und gemäßigt war, wurde ich angegriffen. Es ist
leicht, jemanden zu verurteilen, der „Tod für Israel“ skandiert – viel leichter
als jemanden, der den Hamas-Anschlag bedingungslos verurteilt und gleichzeitig
auf dessen Hintergründe aufmerksam macht. Schließlich könnte ein solcher Ansatz
einige dazu verleiten, auch das palästinensische Leid zu sehen. Dass ich dabei
einige jüdische Personen zitiert habe, auf die ich mich positiv bezog, darunter
Moshe Dayan, Simon Wiesenthal oder Marek Edelman, hat einige Kritiker wohl
zusätzlich verärgert. Ich habe aber auch einige wütende Nachrichten von
Palästinensern aus dem Westjordanland erhalten. Sie sind wütend, weil ich nicht
ausdrücklich gesagt habe, dass sie angesichts dessen, was jetzt mit den
Palästinensern geschieht, nicht im Opferdasein verharren können: Haben die
Menschen im Westjordanland nicht auch ein Recht auf Wut?
Meine eigene Wut richtet sich im Moment eher auf Antisemitismusbeauftragte, die
im Namen Deutschlands eine schlimme Strategie fahren: Diejenigen aus dem Land,
das den Holocaust begangen hat, versuchen nun, sich von ihrer Schuld zu
entlasten, indem sie das israelische Unrecht an einer anderen Gruppe
befürworten! Die deutsche Besessenheit, auf der richtigen Seite zu stehen,
bekommt derzeit eine dunkle Kehrseite.
Die Dummheit des Jahres: „Das Böse der Hamas hat keinen Kontext“
Nun zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit meiner Rede. Hier ist eine der
vielen Reaktionen darauf in den Medien: „Der populäre slowenische Philosoph und
Kulturkritiker Slavoj Žižek sorgte während der Eröffnungszeremonie für einen
Skandal“, schreibt die ukrainische Medienplattform The Gaze. „Žižek verurteilte
den Terroranschlag der palästinensischen islamistischen Bewegung HAMAS auf
Israel und betonte die Notwendigkeit, 'den Palästinensern zuzuhören und ihre
Vergangenheit zu berücksichtigen.'“
Zunächst stelle ich fest: Der letzte Teilsatz in Anführungszeichen ist kein
Zitat aus meinem Text, obwohl er als Zitat dargestellt wird. Zweitens: Ja, es
gab einen Skandal, aber war es wirklich ich, der ihn verursacht hat? War der
wahre Skandal nicht die Art und Weise, wie meine Rede zweimal lautstark
unterbrochen wurde – und diese Unterbrechungen wofür, weil ich was genau getan
habe? Ich wurde dafür unterbrochen, dass ich nur das Offensichtliche gesagt
habe, was wir jeden Tag in unseren Medien lesen und sehen können: dass es keine
Lösung für die Krise im Nahen Osten gibt, ohne den Schwebezustand der
Palästinenser zu beenden.
Der Hauptkandidat für die Dummheit des Jahres ist meiner Meinung nach eine
Zwischenüberschrift in einem kürzlich erschienenen Text in der Zeit: „Das Böse
der Hamas hat keinen Kontext“. Was damit gemeint ist, wurde in Behauptungen
deutlich, die ich in Frankfurt immer wieder zu hören bekam: „Es gibt hier keine
zwei Seiten. Es gibt nur eine Seite.“ Es wurde auf dem Podium von Meron Mendel,
Doron Rabinovici und Tomer Dotan-Dreyfus sogar offen über die Ablehnung des
Wortes „Aber“ diskutiert. Aber: Ist „aber“ nicht die höfliche Art, in einem Dialog
zu widersprechen, also in den Dialog zu treten? „Ich sehe und respektiere Ihren
Standpunkt, aber …“ Wie können wir den Konflikt im Nahen Osten verstehen, ohne
all die Abers darin zu sehen, die Widersprüche und Antworten „der einen Seite“
darauf?
Der Kontext des Antisemitismus
Eine Analyse des Kontextes eines Massakers oder eines Krieges bedeutet keine
Entschuldigung oder Rechtfertigung. Es gibt zahlreiche Analysen darüber, wie
die Nazis an die Macht kamen, und sie rechtfertigen Hitler in keiner Weise, sondern
beschreiben nur die verworrene wirtschaftliche, gesellschaftliche und
politische Situation, die Hitler ausnutzte, um die Macht zu übernehmen. Hitler
erschien nicht plötzlich aus einem Vakuum. In den 1920er und 1930er Jahren bot
er den Antisemitismus als Erklärung für die Probleme der Deutschen an:
Arbeitslosigkeit, moralischer Verfall, soziale Unruhen. Die Vorstellung eines
„jüdischen Komplotts“ als Erklärung schien all das zu sortieren, indem sie eine
einfache „kognitive Zuordnung“ ermöglichte.
Funktioniert der heutige Hass auf den Multikulturalismus und die Bedrohung
durch die Geflüchtete und Migrant*innen nicht in ähnlicher Weise? Es geschehen
merkwürdige Dinge, es kommt zu finanziellen Zusammenbrüchen und
wirtschaftlichen Umbrüchen und Verschiebungen, die unser tägliches Leben
beeinflussen, die aber als völlig undurchsichtig empfunden werden. Die
Ablehnung des Multikulturalismus bringt eine falsche Klarheit in die Situation:
Es sind die ausländischen Eindringlinge, die unsere Lebensweise stören.
Warum vergleiche ich die radikale Hamas mit der radikalen Haltung der
Netanjahu-Regierung?
Historische Vergleiche, die den Nationalsozialismus betreffen, sollen
prinzipiell abgelehnt werden, ich komme später auf die Einzigartigkeit des
Holocaust zurück. Aber der Vergleich einzelner politischer Entwicklungen kann
helfen, aus der Geschichte zu lernen. Und damit zurück zu meiner Rede, denn
auch hier hat ein Vergleich für Empörung gesorgt, und zwar meine Erwähnung der
seltsamen Ähnlichkeit zwischen der radikalen Hamas und der radikalen Haltung
der letzten Netanjahu-Regierung. Hier ist das Zitat aus meiner Rede:
„Ismail Haniyeh, der Führer der Hamas, der bequem in Dubai lebt, sagte am Tag
des Angriffs: 'Wir haben euch nur eines zu sagen: Verschwindet aus unserem
Land. Geht uns aus den Augen … Dieses Land gehört uns, Jerusalem gehört uns,
alles hier gehört uns … Es gibt keinen Ort und keine Sicherheit für euch.'
Klare und ekelhafte Worte. Aber hat die israelische Regierung nicht etwas
Ähnliches gesagt, wenn auch nicht auf so brutale Weise? Ich verweise nochmals
auf das erste der offiziellen 'Grundprinzipien' der gegenwärtigen israelischen
Regierung: 'Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf
alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung aller Teile des
Landes Israel – in Galiläa, im Negev, auf dem Golan und in Judäa und Samaria –
fördern und entwickeln.' Oder, wie Netanjahu erklärte: 'Israel ist nicht ein
Staat aller seiner Bürger', sondern 'des jüdischen Volkes – und nur dieses'.
Schließt dieses 'Prinzip' nicht jegliche ernsthafte Verhandlungen aus? Die
Palästinenser werden strikt als Problem behandelt, der Staat Israel hat ihnen
nie Hoffnung gemacht und ihre Rolle in dem Staat, in dem sie leben, positiv
umrissen. Unter all der Polemik darüber, 'wer mehr Terrorist ist', liegt wie
eine schwere dunkle Wolke die Masse der palästinensischen Araber, die
jahrzehntelang in einem Schwebezustand gehalten werden und täglich Schikanen
durch Siedler und den israelischen Staat ausgesetzt sind. (…) Vielleicht muss
man als erstes die massive Verzweiflung und Verwirrung klar erkennen, die zu
Taten des Bösen führen kann. Es wird keinen Frieden im Nahen Osten geben, wenn
die palästinensische Frage nicht gelöst wird.“
Soweit meine Rede. Mir wurde hier vorgeworfen, eine entscheidende Tatsache zu
ignorieren. Die israelische Regierung sage nicht einfach dasselbe wie die Hamas
in einer zivilisierteren Weise, sondern es gäbe auch einen wichtigen
Unterschied im Inhalt: Die israelische Regierung fordert nicht das wahllose
Umbringen aller ihrer Gegner – und ermordet auch nicht tatsächlich wahllos ihre
Gegner. Das stimmt, und das ist ein wichtiger Unterschied.
Es gibt jedoch einen weiteren Unterschied: Während die Hamas und ihre
Verbündeten verkünden, die Juden aus dem israelischen Land zu vertreiben,
arbeitet Israel tatsächlich an solch einer Vertreibung, indem es die
Palästinenser im Westjordanland schrittweise, aber unaufhaltsam ihres Landes
beraubt. Sogar die USA haben sich besorgt über die Angriffe der Siedler auf
Palästinenser im Westjordanland geäußert, Staatssekretär Antony Blinken hat
seine „Besorgnis“ darüber zum Ausdruck gebracht und, wie zu erwarten war, die
Zusage erhalten, dass Israel der Sache „nachgehen wird“. Wie dies mit Itamar
Ben Gvir als Minister für Nationale Sicherheit geschehen soll, ist derweil
nicht klar. Ben Gvir kündigte am 10. Oktober 2023 an, 10.000 Gewehre für
bewaffnete zivile Sicherheitsteams zu beschaffen, die in Städten nahe der
israelischen Grenzen sowie in gemischten jüdisch-arabischen Städten – und in
Siedlungen im Westjordanland eingesetzt werden sollen.
Die Scheinwerfer der Medien zeigten zu lange nicht auf Gaza
Soweit ich weiß, hat niemand die Fakten bestritten, auf die ich mich in meiner
Rede beziehe. Das Hauptgegenargument war, dass dieser Zeitpunkt, an dem Juden
in Israel massenhaft sterben – und andernorts, auch in Europa, bedroht werden –
nicht der richtige für eine grundlegende Analyse des Konflikts im Nahen Osten
sei. Ich traute meinen Ohren nicht, als ich dieses Argument hörte, denn „zu
diesem Zeitpunkt“, also zehn Tage nach dem verheerenden Hamas-Angriff, waren
bereits mehr Palästinenser gestorben als jüdische Israelis. Aber es stimmt: Zu
anderen Zeitpunkten zuvor habe ich das Grauen, das sich in Gaza abspielte,
ignoriert. Warum habe ich es so lange ignoriert?
Erinnern Sie sich an die allerletzten Zeilen von Brechts Dreigroschenoper:
„Denn die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht. / Und man sieht
nur die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Das ist (vielleicht mehr
denn je) unsere Situation heute, im selbsternannten Zeitalter der modernen
Medien: Während die großen Medien bis vor kurzem voll mit Nachrichten über den
noch immer fortdauernden Ukraine-Krieg waren, wurde über andere, teils
tödlichere Kriege der Welt nicht oder kaum berichtet. Jetzt, da die
Scheinwerfer auf den Nahen Osten gerichtet sind, kann man nicht umhin
festzustellen, dass sie fast ausschließlich auf den Gazastreifen gerichtet
sind, und noch immer nicht auf das Westjordanland, wo womöglich gerade etwas
viel Entscheidenderes vor sich geht. Um hier keine Missverständnisse aufkommen
zu lassen: Ich bin entsetzt darüber, dass die Bombardierung des Gazastreifens
durch die israelische Armee IDF mehr „Kollateralschäden“ an der
Zivilbevölkerung verursacht als an den Hamas-Kräften selbst, aber ich gehe
nicht davon aus, dass Israel den Gazastreifen wieder besetzen will. Ich gehe
davon aus, das Ereignis, das die Geschichte im Nahen Osten langfristig prägen
könnte, findet derzeit und schon seit Jahren im Westjordanland statt: Es ist
die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung zugunsten israelischer
Besiedlung.
Ich kann Judith Butler nur beipflichten, die in ihrem Text im Freitag und in
der London Review of Books in einem eindrücklichen Zitat die Gewalt beschreibt:
„Von der systematischen Beschlagnahmung von Land bis zu routinemäßigen
Luftangriffen, von willkürlichen Verhaftungen bis zu militärischen
Kontrollpunkten, von erzwungenen Familientrennungen bis zu gezielten Tötungen sind
die Palästinenser gezwungen, in einem Zustand des langsamen und plötzlichen
Todes gleichermaßen zu leben.“
Der Terror israelischer Siedler im Westjordanland
Unter der neuen Netanjahu-Regierung nahm dieser Druck auf Palästinenser in der
Westbank enorm zu. Unter Dutzenden von Videoclips, die derzeit kursieren,
möchte ich nur einen erwähnen. Es ist bei Weitem nicht das gewalttätigste, aber
zumindest für mich das deprimierendste Video. Es zeigt einen Siedler, der eine
Gruppe palästinensischer Bauern, die auf ihrem Land arbeiten, demütigt und
beschimpft, indem er behauptet, das Land gehöre ihnen nicht, er öffnet ihre
Säcke mit Saatgut und verstreut es, er stellt sich provokativ Brust an Brust
vor die Palästinenser und ruft: „Warum schlägst du mich nicht? Bist du ein
Mann?“ All diese Drohgebärden passieren in der stillen Gegenwart einiger
beobachtender, bewaffneter israelischer Soldaten im Hintergrund. Können wir uns
vorstellen, was passiert wäre, wenn ein palästinensischer Bauer dies mit einer
Gruppe von israelischen, jüdischen Siedlern gemacht hätte?
Das ist nur ein Detail. Es passieren auch andere Dinge: Gruppen von Siedlern
schicken palästinensischen Häusern die Drohung, dass sie ihre Wohnung in den
nächsten 24 Stunden räumen sollen, und wenn sie das nicht tun, kommen die
Siedler und greifen die Familien an. Am 12. Oktober wurden zwei Palästinenser
getötet, als israelische Siedler das Feuer auf einen Trauerzug in der Nähe der
Westbankstadt Qusra, südlich von Nablus, eröffnet hatten. „Krankenwagen
transportierten die Leichen von vier Palästinensern, die einen Tag zuvor
erschossen worden waren, Berichten zufolge ebenfalls von israelischen Siedlern,
als Siedler am Tatort eintrafen und versuchten, den Beerdigungszug
aufzuhalten“, schreibt die Times of Israel. Einer der Fahrer des Krankenwagens
wurde von der israelischen Zeitung Haaretz mit den Worten zitiert, dass „die
Siedler dort gewartet hätten. Sie blockierten das Tor und begannen, auf uns und
andere Menschen, die zur Beerdigung gekommen waren, zu schießen.“
Die offizielle Reaktion? Die israelischen Verteidigungskräfte IDF teilten mit,
dass nach Zusammenstößen zwischen Siedlern und Palästinensern in dem Dorf, in
dem die Beerdigung stattfinden sollte, mehrere palästinensische Opfer zu
beklagen seien und „dass der Vorfall untersucht werde.“ Im vergangenen Jahr gab
es wiederholt Vorfälle, bei denen junge Siedler gewaltsam in Dörfer eindrangen
und dabei mehrere Palästinenser töteten, zahlreiche Menschen verletzten und
erheblichen Sachschaden anrichteten. Die Angreifer werden selten verhaftet,
geschweige denn für ihre Taten belangt.
Im Februar dieses Jahres jagte ein aggressiver Mob israelischer Siedler mit
Knüppeln und Schusswaffen durch die Straßen der palästinensischen Stadt Huwara
nahe Nablus und umliegende Dörfer. Ein Palästinenser starb, mehrere Hundert
wurden verletzt. Es ist nur einer vieler gewaltsamer Übergriffe, bei denen
manchmal ein, zwei, drei Palästinenser sterben, jeder Vorfall für sich löste
keine weltweite Empörung aus. Seit 2008 haben israelische Streitkräfte und
Siedler im Westjordanland und im Gazastreifen aber fast 3.800 palästinensische
Zivilisten getötet – bis zum Ausbruch des derzeitigen Krieges. Wenn dies keine
Form von Terror ist, dann hat dieses Wort überhaupt keine Bedeutung.
Gewalt gegen Palästinenser wird gutgeheißen
Solange die traditionelle säkulare zionistische Siedler-Kolonialideologie
vorherrschte, privilegierte der Staat (mehr oder weniger) diskret seine
jüdischen Bürger gegenüber den Palästinensern; er unternahm jedoch große Anstrengungen,
um den Anschein einer neutralen Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten. Von
Zeit zu Zeit verurteilte er zionistische Extremisten für ihre Verbrechen gegen
Palästinenser, und er begrenzte die illegalen neuen Siedlungen im
Westjordanland. Die wichtigste Behörde dafür war der Oberste Gerichtshof. Nun
setzte die Regierung Netanjahu, die 2022 an die Macht kam, eine Justizreform
durch, die den Obersten Gerichtshof seiner Autonomie beraubte. Die massiven
Proteste gegen die Justizreform aus der israelischen Zivilgesellschaft waren
womöglich der letzte Schrei des säkularen Zionismus: Mit der neuen
Netanjahu-Regierung wird die antipalästinensische Gewalt nicht einmal mehr
formell vom Staat verurteilt.
Zur Erinnerung: Bevor der Minister für Nationale Sicherheit Ben Gvir in die
Politik ging, hing in seinem Wohnzimmer ein Porträt des
israelisch-amerikanischen Terroristen Baruch Goldstein, der 1994 in Hebron
neunundzwanzig palästinensisch-muslimische Gläubige massakrierte und 125
weitere verletzte, was als Massaker in der Höhle der Patriarchen bekannt wurde.
Der Staat Israel, der sich gerne als die einzige Demokratie im Nahen Osten
präsentiert, hat sich de facto in einen „halachischen theokratischen Staat (das
Äquivalent zur Scharia) verwandelt“, wie der Professor Jamil Khader der
Bethlehem Universität nach der Hetzjagd von Huwara schreibt.
Khader erklärt in diesem Text seine Theorie zum „Surplus-Genuss“, dem
„Lustgewinn“ (surplus enjoyment) im Zusammenhang mit antipalästinensischer
Gewalt: Im Lacan'schen Sinne funktioniert diese obszöne Gewalt als
Surplus-Genuss, den wir als Belohnung für unsere Unterordnung unter eine
ideologische Struktur erhalten, für die Opfer und den Verzicht, die diese
Struktur von uns verlangt. Jamil Khader schreibt: „In diesem extremistischen
messianisch-zionistischen Diskurs wird der Surplus-Genuss (wie das Töten von
Palästinensern, das Verbrennen ihrer Häuser, die Vertreibung aus ihren Häusern,
die Konfiszierung ihres Landes, der Bau von Siedlungen, die Zerstörung ihrer
Olivenbäume, die Judaisierung der Al-Aqsa, und so weiter) ausdrücklich
artikuliert. Während diese Formen des Genusses früher im offiziellen
zionistischen Diskurs als Ausnahme betrachtet wurden, gelten sie jetzt als
Norm.“
Wenn, wie ich ebenfalls schon erwähnte, der Minister für Nationale Sicherheit
Ben Gvir im August 2023 im Fernsehen sagt: „Mein Recht, das Recht meiner Frau
und das Recht meiner Kinder, sich auf den Straßen von Judäa und Samaria
[Westjordanland] frei zu bewegen, ist wichtiger als das der Araber“ – dann hatte
er damit Recht. Ja, das ist die Realität im Westjordanland. Die Vertreibung der
Palästinenser wird nicht einmal mehr formell vom Staat verurteilt.
Die Rede von António Guterres – und die zynische Reaktion darauf
Und wenn politisch denkende Menschen dies im Zusammenhang mit dem brutalen
Massaker der Hamas erwähnen, dann geht es nicht um eine Rechtfertigung von
Gewalt, sondern um den Versuch, den Kontext solch eines Gewaltausbruchs zu
erkennen – wie sonst soll zukünftige Gewalt verhindert werden? In diesem
Kontext verstehe ich die Worte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen
António Guterres, der am 24. Oktober 2023 vor dem UN-Sicherheitsrat sagte: „Es
ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht im luftleeren Raum
stattgefunden haben. Das palästinensische Volk hat 56 Jahre lang unter einer
erdrückenden Besatzung gelitten. Es hat mit ansehen müssen, wie sein Land immer
mehr von Siedlungen verschlungen und von Gewalt heimgesucht wurde, wie seine
Wirtschaft unterdrückt, seine Menschen vertrieben und seine Häuser zerstört
wurden. Ihre Hoffnungen auf eine politische Lösung für ihre Notlage haben sich
in Luft aufgelöst. Aber die Beschwerden des palästinensischen Volkes können die
schrecklichen Angriffe der Hamas nicht rechtfertigen. Und diese schrecklichen
Angriffe können die kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes nicht
rechtfertigen.“
Die Reaktion war nicht nur wütende Kritik; eine Petition fordert gar den
Rücktritt von Guterres: „Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat jetzt
sein wahres Gesicht gezeigt und der Welt bewiesen, dass er voreingenommen und
zwiespältig ist und nicht die richtige Person, um die Vereinten Nationen durch
diese angespannte Phase in der Geschichte unserer Welt zu führen“, heißt es
darin. Der Zynismus der Petition zur Forderung seines Rücktritts ist
beeindruckend: „Das israelische Volk (Juden, Muslime, Christen, Drusen und
Beduinen) hat einen schweren Terroranschlag erlitten.“ Während die israelische
Regierung Nicht-Juden ausdrücklich als Bürger zweiter Klasse behandelt, werden
sie nun plötzlich als Opfer der Hamas angesprochen?
Die Hamas muss vernichtet werden
Aber verlieren wir uns nicht in einer falschen Aufspaltung der Seiten, in jene,
die nur „die eine Seite“ oder die nur „die andere Seite“ sehen wollen (und die
jeweils andere Seite mit dem Argument ausblenden, die eine Seite auf diese
Weise besser zu sehen). Um einen Ausweg zu finden, muss man sich zunächst voll
und ganz eingestehen, dass wir es mit einer wahren Tragödie zu tun haben. Es
gibt keine klare, einfache Lösung, außer der von Ben Gvir und der Hamas
propagierten: die Vernichtung der anderen Seite.
Diese vermeintlich klare, zutiefst unmenschliche Lösung ist nicht akzeptabel.
Meine Verurteilung des Hamas-Angriffs ist daher klar und unmissverständlich.
Nicht umsonst lautet der Titel meines Interviews in der Zeit: „Die Hamas muss
vernichtet werden“. Ihr Massaker war schrecklich. Jenes Gebiet östlich des
Gazastreifens, in dem die Hamas mordete, war größtenteils von Jüdinnen und
Juden bewohnt, die für ein friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern
eintraten, einige von ihnen engagierten sich sogar für die Leidtragenden in
Gaza.
Warum spreche ich von einer Tragödie? Weil die Hamas das Ergebnis von all jenen
ist, die die Frage Israels und Palästinas mit Gewalt klären wollen. Die Times
of Israel berichtet davon, dass die israelische Politik unter Netanjahu über
Jahre darauf ausgerichtet war, „die Palästinensische Autonomiebehörde als Last
und die Hamas als politisch von Vorteil zu betrachten“. Der rechtsextreme
Bezalel Smotrich, jetzt Finanzminister in der Hardliner-Regierung und
Vorsitzender der Partei des Religiösen Zionismus, habe dies im Jahr 2015 selbst
gesagt. Verschiedenen Berichten zufolge habe sich Netanjahu Anfang 2019 auf
einer Fraktionssitzung des Likud in ähnlicher Weise geäußert, als er etwa mit
den Worten zitiert wurde, „dass diejenigen, die gegen einen palästinensischen
Staat sind, den Transfer von Geldern nach Gaza unterstützen sollten, weil die
Aufrechterhaltung der Trennung zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde
im Westjordanland und der Hamas in Gaza die Gründung eines palästinensischen
Staates verhindern würde“.
Kurz gesagt: Israel hat hier denselben Fehler gemacht wie die USA und ihre
Verbündeten in Afghanistan, als sie radikale Islamisten wie Osama bin Laden
unterstützten, um das von der Sowjetunion unterstützte Regime zu besiegen.
Wir dürfen nicht zwischen der Hamas und Netanjahu wählen
Der israelische Historiker Yuval Harari hat Recht, wenn er betont, dass das Hauptziel
des Hamas-Angriffs nicht nur die Ermordung von Juden war, sondern auch die
Verhinderung jeglicher Friedenschancen in absehbarer Zukunft. Dieser Krieg
wurde von der Hamas mit dem Ziel begonnen, den Krieg selbst zu verewigen. Und
Harari hat Recht, wenn er hinzufügt, dass Israel diese von der Hamas gestellte
Falle vermeiden sollte, denn „auf lange Sicht wird es nur dann Frieden geben,
wenn die Palästinenser in ihrem Heimatland ein würdiges Leben führen können“.
Es ist wichtig, die Worte „in ihrem Heimatland“ zu betonen: Harari akzeptiert
hier, dass das von Israel besetzte Land auch das palästinensische Heimatland
ist.
Um es bewusst naiv zu formulieren: Israel sollte seine palästinensischen Bürger
wie seine eigenen Bürger behandeln. Zur Empörung vieler meiner „linken“
Kritiker stimme ich mit der zentralen Aussage eines Briefes überein, den Harari
zusammen mit dem israelischen Schriftsteller David Grossman und anderen
unterzeichnet hat: „Es gibt keinen Widerspruch zwischen der entschiedenen
Ablehnung der israelischen Unterwerfung und Besetzung der Palästinenser und der
unmissverständlichen Verurteilung brutaler Gewaltakte gegen unschuldige
Zivilisten. In der Tat muss jeder konsequente Linke beide Positionen
gleichzeitig vertreten.“
Ich habe in meiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse genau das Gleiche gesagt,
wie ich es auch hier im Freitag schon geschrieben hatte: „Man sollte in beiden
Richtungen bis zum Ende gehen, sowohl bei der Verteidigung der
palästinensischen Rechte als auch beim Kampf gegen den Antisemitismus. Die
beiden Kämpfe sind zwei Momente desselben Kampfes. (…) Diejenigen, die denken,
dass es einen 'Widerspruch' in dieser meiner Haltung gibt, leiden unter einer
völligen moralischen Desorientierung.“
Über linke Irrwege: Israel ist nicht die Ukraine, Donezk ist nicht das
Westjordanland
In Ljubljana, meiner Heimatstadt, habe ich ein Graffiti an einer Wand gesehen:
„Wenn ich ein Palästinenser aus dem Westjordanland wäre, wäre ich auch ein
Holocaust-Leugner.“ Genau das ist die Logik, die man auf gar keinen Fall
übernehmen darf. Man darf auch ihr Pendant nicht übernehmen: „Ein jüdischer
Israeli, deren Vorfahren im Holocaust verfolgt oder brutal ermordet wurden, hat
das Recht, jene Ungerechtigkeiten, die der Staat Israel gegenüber
Palästinensern begeht, zu ignorieren.“
Solche Logiken führen auch zu seltsamen Verwischungen der Identifikation in
globalen Konflikten. Der pro-israelische Westen (insbesondere die USA) stellt
nun die Verteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression und die
Verteidigung Israels gegen die Hamas als Momente desselben globalen Krieges
dar, als ob Israel = Ukraine wäre. Auf der gegenüberliegenden pseudolinken
Seite wird bereits behauptet, dass die Angriffe Russlands und die Angriffe der
Hamas beide als gerechtfertigte Verteidigungsmaßnahmen anzusehen sind, die nach
einer langen Geschichte der Unterdrückung explodiert sind – als wäre Donezk das
russische Westjordanland.
Warum ich den Begriff „Pseudolinke“ verwende? Weil ich in einer alten
marxistischen Tradition daran festhalte, dass die Linke strukturell nicht
antisemitisch sein kann, da sie weiß, dass Antisemitismus auf dem grundlegenden
ideologischen Vorgang beruht, immanente soziale Antagonismen auf einen externen
Akteur zu übertragen – der liquidiert werden soll. Das ist auch der Grund,
warum Populismus (auch: pseudolinker Populismus) dazu neigt, antisemitisch zu
sein: Populismus stellt nicht den Antagonismus in Frage, der der grundlegenden
sozialen Ordnung eingeschrieben ist, sondern konzentriert sich auf „Korruption“,
einzelne scheinbar „mächtige“ Personen in wichtigen Positionen und Ähnliches.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass es in der heutigen Linken tatsächlich
antisemitische Tendenzen gibt, und diese sind ein verlässliches Signal dafür,
dass mit dieser Linken etwas zutiefst falsch läuft. Das gilt von Stalin bis
Hugo Chávez in Venezuela, der übrigens von keinem Geringeren als Fidel Castro
ermahnt wurde, Antisemitismus nicht zu reproduzieren.
Warum ich den SS-Mann Reinhard Heydrich zitierte
In Zeiten dieses schleichenden Antisemitismus wird der Krieg gegen Gaza von
manchen genutzt, um jüdische Personen oder den Staat Israel für alle möglichen
globalen Probleme verantwortlich zu machen. Etwas anderes ist es, den Konflikt
im Nahen Osten in Verbindung zur Politik des Staates Israel zu bringen, der ja
tatsächlich ein zentraler Akteur in diesem Konflikt ist. Daher, ein letztes
Mal, zurück zu meiner Rede auf der Frankfurter Buchmesse – und der Debatte, die
darauf folgte. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wusste man über die
Reaktion des Frankfurter Oberbürgermeisters zu berichten: „'Die Rede hat vor
Ort irritiert', sagte Mike Josef der F.A.Z. 'Ich bin kurzzeitig aus dem Saal
gegangen, um mit anderen Magistratsmitgliedern zu sprechen.' Die
Meinungsfreiheit sei wichtig. 'Und es ist auch notwendig, Debatten anzustoßen,
in denen alle Sichtweisen berücksichtigt werden. Jedoch wurde mit dem
Heydrich-Zitat eine Grenze überschritten, die über Provokation hinausgeht. Das
war falsch.'“
Tatsächlich wurde meine Rede zum zweiten Mal unterbrochen, als ich den SS-Mann
Reinhard Heydrich zitierte. Mir wurde unterstellt, ich würde Heydrich mit der
politischen Position der Regierung Israel in eine Linie stellen. Diese
Unterstellung geht aber völlig an dem Punkt vorbei, den ich in meiner Rede
machte.
Warum habe ich Heydrich erwähnt? Ich habe einen Gedankengang vorgetragen, den
ich auch schon in meinen Büchern und Vorträgen (übrigens auch in Tel Aviv, wo
er ohne Probleme angenommen wurde) entwickelt habe. Was mich dabei beschäftigt:
Heutzutage scheint ein seltsames Phänomen wieder aufzutauchen, das wir aus der
Vergangenheit kennen. Während Donald Trump in seiner Zeit als US-Präsident
Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannte, sind einige seiner Anhänger wie
etwa die rechtsextremen Proud Boys offen antisemitisch. Ähnliches scheint sich
auch in der deutschen AfD zu finden. Ist hier wirklich ein Widerspruch?
Als Trump die umstrittene Verordnung gegen Antisemitismus an Universitäten
unterzeichnete, war John Hagee anwesend, ein bekannter US-amerikanischer
Evangelist, der Gründer und Vorsitzende der christlich-zionistischen
Organisation Christians United for Israel. An der Spitze der
christlich-konservativen Standardagenda äußerte sich Hagee eindeutig
antisemitisch: Er hat den Juden selbst die Verantwortung für den Holocaust
zugeschoben; er hat erklärt, dass die Judenverfolgung unter Hitler ein
„göttlicher Plan“ war, um die Juden dazu zu bringen, den modernen Staat Israel
zu gründen; er nennt liberale Juden „vergiftet“ und „geistig blind“. Man sollte
sehr misstrauisch sein gegenüber einer solchen vergifteten Unterstützung des
Staates Israel, die eine lange Tradition hat.
Der zionistische Antisemitismus des Anders Breivik
Antisemitisch und gleichzeitig pro-israelisch, diese Haltung kennen wir auch
von Anders Breivik, dem rassistischen, einwanderungsfeindlichen Massenmörder
aus Norwegen. Im Staat Israel sah Breivik die erste Verteidigungslinie gegen
die „muslimische Expansion“, er möchte den Jerusalemer Tempel wieder aufgebaut
sehen, aber er schrieb in seinem „Manifest“ auch: „Es gibt kein jüdisches
Problem in Westeuropa (mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs und
Frankreichs), da wir nur eine Million [Juden] in Westeuropa haben, wobei
800.000 von dieser einen Million in Frankreich und dem Vereinigten Königreich
leben. Die USA hingegen haben mit mehr als 6 Millionen Juden (600 Prozent mehr
als in Europa) tatsächlich ein beträchtliches jüdisches Problem.“
Die Figur Breivik verkörpert somit das ultimative Paradoxon des zionistischen
Antisemiten – und ich fand die Spuren dieser seltsamen Haltung historisch in
dem Nazi Reinhardt Heydrich, einem der Drahtzieher des Holocausts, der 1935
schrieb: „Wir müssen die Juden in zwei Kategorien einteilen: die Zionisten und
die Assimilationsbefürworter. Die Zionisten bekennen sich zu einem streng
rassischen Konzept und helfen durch die Auswanderung nach Palästina, ihren
eigenen jüdischen Staat aufzubauen. / ... / unsere guten Wünsche und unser
offizielles Wohlwollen sollen mit ihnen gehen.“ (Zitiert nach Heinz Höhne: The
Order of the Death's Hand. The Story of Hitler’s SS)
Das ist zionistischer Antisemitismus in seiner reinsten und deutlichsten Form.
Nun stellt sich die Frage, ob diese Form heutzutage eine relevante Rolle
spielt, jenseits christlicher Fundamentalisten in den USA oder verirrter
Rechtsextremer in Europa.
Die Diskussion über Apartheid in der Westbank
Die Folgen des extremistischen zionistischen Siedlungsprojekts im
Westjordanland jedenfalls sollten jedem Linken Sorgen bereiten, denn sie
bereiten bereits ehemaligen israelischen Generälen Sorgen. Selbst Amiram Levin,
ein ehemaliger israelischer General, ehemaliger Chef des Nordkommandos der
israelischen Armee und stellvertretender Chef des Auslandsgeheimdienstes
Mossad, sagte in einem Gespräch mit dem öffentlich-rechtlichen israelischen
Sender Kan über die Lage im Westjordanland: „Seit 57 Jahren gibt es dort keine
Demokratie mehr, es herrscht totale Apartheid“. Wohlgemerkt, wenn Levin von
Apartheid spricht, bezieht er sich dabei nicht auf das ganze israelische
Staatsgebiet, sondern auf die Westbank. Er sagt weiter: „Die israelische Armee,
die gezwungen ist, dort Souveränität auszuüben, verrottet von innen heraus. Sie
steht daneben, während Siedler randalieren, schaut ihnen zu und beginnt, sich
an Kriegsverbrechen zu beteiligen.“ Auf die Frage nach der Art der „Vorgänge“
verwies Levin auf die Zeit der Rassengesetze in Nazideutschland. „Es ist schwer
für uns, das auszusprechen, aber es ist die Wahrheit. Gehen Sie durch Hebron
und sehen Sie sich die Straßen an. Straßen, auf denen Araber nicht mehr gehen
dürfen, nur noch Juden. Das ist genau das, was dort passiert ist, in jenem
dunklen Land.“
Es muss hier wohl kaum erwähnt werden, dass die Situation der Palästinenser in
Hebron und der Situation von Juden im Nazi-Deutschland nicht gleichgesetzt
werden kann. Ungerechtigkeit, apartheidsähnliche Regeln, einzelne Morde und
Vertreibung sind nicht mit den Gaskammern des Holocaust zu vergleichen. Wenn
aber ein Jude, der weiß, was der Nazi-Antisemitismus bedeutet, solche Parallelen
anstellt, wird es ihm sehr ernst damit sein, das, was im Westjordanland vor
sich geht, als äußerst gefährliche Tendenz zu beschreiben.
Solange es Menschen wie Amiram Levin gibt, gibt es Hoffnung. Nur mit ihrer
Solidarität und Unterstützung haben die Palästinenser im Westjordanland eine
Chance.
Wo das Böse absolut ist, gibt es keine Guten
Die Lehre aus all dem ist jedoch eine sehr traurige. In einer denkwürdigen
Passage in Still Alive: A Holocaust Girlhood Remembered beschreibt Ruth Klüger
ein Gespräch mit Doktoranden in Deutschland: „Einer berichtet, wie er in
Jerusalem die Bekanntschaft eines alten ungarischen Juden machte, der Auschwitz
überlebt hatte, und dieser Mann verfluchte die Araber und verachtete sie alle.
Wie kann jemand, der aus Auschwitz kommt, so reden? fragt der Deutsche. Ich
schalte mich ein und argumentiere, vielleicht etwas heftiger als nötig. Was hat
er denn erwartet? Auschwitz war keine Lehranstalt … Man hat dort nichts
gelernt, schon gar nicht Menschlichkeit und Toleranz. Aus den
Konzentrationslagern kam nichts Gutes, höre ich mich sagen, und meine Stimme
erhebt sich, und er erwartet eine Katharsis, eine Läuterung, etwas, wofür man
ins Theater geht? Es waren die nutzlosesten und sinnlosesten Einrichtungen, die
man sich vorstellen kann.“
Vor einigen Jahren gab es in Deutschland eine Debatte darüber, was schlimmer
war: der Holocaust oder der Kolonialismus? Ich meine, dass solch eine Debatte
als zutiefst obszön zurückgewiesen werden muss. Der Holocaust war ein
einzigartiges, schreckliches Mega-Verbrechen. Der Kolonialismus hat
unvorstellbare Mengen an Tod und Leid verursacht. Der einzig richtige Weg, sich
diesen Schrecken zu nähern, besteht darin, den Kampf gegen Antisemitismus und
gegen Kolonialismus heute als Teile ein und desselben Kampfes zu betrachten.
Wer die Einzigartigkeit des Holocausts relativiert, beleidigt die Opfer der
Kolonisierung, und wer den Kolonialismus als das kleinere Übel abtut, beleidigt
die Opfer des Holocaust, indem er ein jeweils unerhörtes Grauen als Druckmittel
für geopolitische Spiele instrumentalisiert. Der Holocaust ist nicht ein
Verbrechen in einer Reihe von Verbrechen, er war auf seine Weise einzigartig.
Genauso wie die moderne Kolonisierung ein atemberaubender Horror war, der im
Namen der Zivilisierung anderer getan wurde.
Wir sprechen von unvergleichlichen Ungeheuerlichkeiten, die nicht auf bloße
Beispiele reduziert werden können, um in politischen Debatten „verglichen“ und
instrumentalisiert zu werden. Jedes von ihnen ist in gewisser Weise „absolut“
in seinem Bösen.
Die Lektion, die wir hier ziehen müssen, ist eine tragische. Wir müssen uns von
der Vorstellung verabschieden, dass extreme Erfahrungen etwas Emanzipatorisches
haben, dass sie uns in die Lage versetzen, das Chaos zu beseitigen und unsere
Augen für die letzte Wahrheit einer Situation zu öffnen. Das gilt auch für die
Opfer des Hamas-Massakers, und das gilt auch für die unterdrückten
Palästinenser. Es gibt keine Helden, keine „Guten“ in diesem Konflikt, auch
wenn manche Linke sie sich gerne herbeifantasieren.
Übersetzung: Elsa Koester
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